Nur die Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, können wir entscheiden. – Heinz von Förster
HBR.org hat diesen sehr interessanten Artikel zu Entscheidungen in Organisationen veröffentlicht. Die Autoren erklären das Decision Analysis Framework, das die folgenden Elemente hat:
- Einen geeigneten Rahmen, inklusive eines klaren Verständnisses des Problems und der notwendigen Ergebnisse
- Kreative, umsetzbare Alternativen, aus denen man diejenigen auswählen kann, mit der man seine Ziele am besten erreicht.
- Bedeutsame Informationen, die verlässlich und wertfrei sind und die alle relevanten Unsicherheiten abdecken.
- Klarheit über die gewünschten Ergebnisse, inklusive akzeptabler Trade-Offs.
- Solide Schlussfolgerungen und Logik, die Unsicherheiten und Erkenntnisse auf einem angemessenen Komplexitätsniveau enthalten.
- Verpflichtung zum Handeln von allen Beteiligten, die man für die effektive Umsetzung benötigt.
Die Autoren erklären weiter, dass Unternehmen einen gründlichen unternehmensweiten Entscheidungsprozess implementieren sollen anstatt darauf zu hoffen, dass Einzelne die oben genannten Prinzipien anwenden.
Beim Lesen kann man den Eindruck gewinnen, dass gute Entscheidungen mechanistisch sichergestellt werden können. In der Praxis habe ich das noch nicht gesehen. Trotzdem sollte man versuchen, Entscheidungen besser zu treffen. Im Folgenden möchte ich mehr Kontext zum Denken und Entscheidungen geben, persönliche Erfahrungen teilen und erklären, was wir bei XING machen.
Wie Experten über Denken und Entscheiden nachdenken
Daniel Kahneman sagte, dass es zwei Arten bzw Systeme gibt wie unser Gehirn denkt und entscheidet:
System 1: Schnell, automatisch, oft, emotional, Stereotypen nutzend, unbewusst
System 2: Langsam, aufwändig, selten, logisch, berechnend, bewusst
Wir denken mehr im System 1 als uns lieb und bewusst ist. Gutes Entscheiden hat aber mehr mit System 2 zu tun, denn wir können nur bewusste Gedanken im Moment ihres Entstehens weiterentwickeln.
In seinem Buch ‚Thinking and Deciding‘ definiert Jonathan Baron bewusstes Denken als Suche und Schlussfolgerung. We suchen gleichzeitig nach Möglichkeiten, Evidenzen und Zielen. Aus diesen drei Objekten schlussfolgern wir eine Entscheidung, d.h. wir wählen eine Handlung. Anders gesagt: Wir entscheiden uns für eine der vorhandenen Möglichkeiten auf Basis eines Zieles und vorhandener Evidenzen. Dies ist ein iterativer Prozess! Neue Evidenzen können Ziele verändern oder neue Möglichkeiten schaffen. Neue Möglichkeiten initiieren die Suche nach mehr Evidenzen oder den Wunsch nach anderen Zielen. Und andere Ziele führen zur Suche nach Möglichkeiten und Evidenzen.
Ein praktischer Rahmen zum Denken und Entscheiden
Wann immer ich über ein Problem nachdenke, führe ich (mehr oder weniger explizit) folgende Schritte aus, die ich in einer ‚Infinity loop of thinking and deciding‘ dargestellt habe.
Als erstes bringe ich ungeordnet alle meine Gedanken zu dem Thema auf Papier, so dass nichts verloren geht. Daraus wähle mein vorläufiges Ziel. Ich versuche die Beweggründe für mein Ziel zu verstehen und überlege, ob es noch tieferliegende Gründe für mein Ziel gibt. Dabei bin ich mir immer der Tatsache bewusst, dass sich mein Ziel in dieser Phase auf Basis des Nachdenkens und neuer Erkenntnisse verändern kann.
Danach folgt ein iterativer Prozess, in dem zwischen dem Öffnen durch assoziative Ideen und dem Einschränken durch Strukturierung hin- und hergesprungen wird. Wenn ich viele Ideen erarbeitet habe hilft es mir, diese Ideen durch Kategorisierung in eine Ordnung zu bringen. Dadurch bemerke ich Lücken in der Struktur und generiere neue Ideen durch ein höheres Abstraktionsniveau. In diesem Prozess sind alle relevanten Stakeholder eingebunden.
Sobald genug Struktur mit vielen Ideen vorhanden ist, geht es um die Generierung und Priorisierung von möglichen Lösungen, die einen ausreichend großen Lösungsraum aufspannen. Vorhandene Daten, Informationen und Analysen helfen dabei.
Jetzt geht es darum, die Gedanken mit der Realität in Kontakt zu bringen. Anstatt eine Entscheidung auf Basis rein theoretischen Überlegungen zu treffen und eine ‚große Wette‘ zu machen, präferiere ich es, eine Entscheidung als ein zu testende Hypothese zu verstehen. Ich versuche möglichst wenig festzulegen, um zukünftig eine maximale Flexibilität zu bewahren. Es geht darum, sofern möglich mit kleinen Tests, Piloten oder Experimenten zu starten, die wiederum neue Evidenzen schaffen. Damit started ein neuer Zyklus, in dem Ziele oder Lösungen geändert werden können.
Wie wir bei XING versuchen, Produktentscheidungen zu verbessern
Bei XING haben wir keinen formalisierten Unternehmensprozess für Entscheidungen. Wir möchten nicht bürokratisch sein. Allerdings haben wir ein Experiment mit einem sehr leichtgewichtigen Werkzeug gestartet. Damit versuchen wir vor dem Start größerer Produktentwicklungen bei allen Beteiligten ein gemeinsames Verständnis zu erzeugen. Dies adressiert drei Punkte aus dem oben genannten Decision Analysis Framework: ein geeigneter Rahmen, Klarheit über die gewünschten Ergebnisse und Verpflichtung zum Handeln.
Wir nennen dieses Werkzeug Auftragsklärung. Überraschender Weise gibt es für diese sehr bedeutungsvolle deutsche Wort keine kurze englische Übersetzung. Unseren Kollegen, die nicht deutsch sprechen, sagen wir, dass dieses Tool ein wirkliches Ass ist – ACE (assignment clarification exercise). Es handelt sich um einen 1-2 Seiter, der von einem Produktmanager geschrieben wird, um ein OK vom Management und die Unterstützung durch das Team zu bekommen. Die Struktur unserer Auftragsklärung ist im Diagramm dargestellt. I werde in einem zukünftigen Artikel näher auf dieses Werkzeug eingehen.
Bisher sind unserer Erfahrung mit Auftragsklärungen sehr positiv. Man entdeckt Lücken im Denken und kann unterschiedliche Erwartungen zu Beginn klären. Sobald eine Auftragsklärung gemacht wurde, sind das WAS und WARUM einer Produktinitiative klar und die Teams haben mehr Autonomie das WIE zu erarbeiten.
Zusammenfassung: Tägliche Routinen für ein besseres Denken und Entscheiden
Entscheiden ist kein mechanistischer Prozess, der bis zur Perfektion ausgerechnet werden kann. Es ist eine menschliche Aktivität und als solches eine Kunst. Erfahrung und Werkzeuge helfen, die Wahrscheinlichkeit einer guten Entscheidung zu erhöhen.
Es gibt eine Dinge, die ich versuche in meiner täglichen Arbeit umzusetzen, um besser zu Denken und zu Entscheiden – sowohl auf persönlicher als auch Unternehmensebene.
- Das Werkzeug Auftragsklärung nutzen, um ein gemeinsames Verständnis zu haben bevor wir eine größere Produktinitiative starten.
- So wenig wie möglich, so viel wie nötig entscheiden. Bei Unsicherheit liegt ein hoher Wert darin, seine Optionen zu behalten oder sogar auszuweiten.
- Sich des Momentes bewusst sein. Insbesondere bevor man eine Entscheidung trifft, sollte man überprüfen, dass man ausreichend System 2 Denken angewendet hat. Gleichzeitig gilt es auf sein Bauchgefühl zu achten: wenn eine anstehende Entscheidung sich nicht gut anfühlt, muss man vor der Entscheidung das WARUM des Unwohlseins herausfinden.
- Alle wichtigen Stakeholder hören, bevor man eine Entscheidung trifft. Dadurch wird eine Entscheidung nur besser und man erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass alle Stakeholder die Entscheidung mittragen – auch wenn sie nicht in ihrem Sinne ausgefallen ist.
- Sich daran gewöhnen, dass Möglichkeiten, Evidenzen und Ziele sich gegenseitig beeinflussen und verändern. Bis zu einem gewissen Umfang ist alles im Fluss.
- Mit großer Kraft Lösungen und Evidenzen suchen, die alle für richtig halten. Gleichzeitig erkennen, dass man die unentscheidbaren Fragen entscheiden muss, bei denen es kein Richtig oder Falsch gibt. Dies sind oft genug die großen und wichtigen Entscheidungen. Die Aufgabe ist es dann, diese Entscheidungen richtig zu machen; im doppelten Sinne.
HBR Artikel: An organization-wide approach to good decision making